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Harmonia
Kraftwerk. NEU! Cluster. Sicherlich die bekannten deutschen Musik-Exporte der 70er Jahre, stilbildend und gerade in England noch heute verehrt. Pioniere der elektronischen Musik. Aber Harmonia?
Im Gegensatz zu den Genannten blieb dieses Projekt auch hierzulande nur einem Insiderkreis ein Begriff. Zu Unrecht. Die Innovationskraft von Harmonia wird verständlich, wenn man die Namen der Bandmitglieder aufzählt, die allesamt an den o.g. Kultbands des Krautrock beteiligt waren und die zu Deutschlands erster Garde der experimentiellen Musik zählen: Michael Rother, Dieter Moebius und Hans-Joachim Roedelius.
Harmonia wurde 1973 gegründet von Rother, damals schon bekannt als Hälfte von NEU! und ehemaliges Mitglied von Kraftwerk, sowie von den beiden Cluster-Musikern Roedelius und Moebius. Und es entstand dabei eine ebenso wegweisende und aufregende Band. Inspiriert wurden die Harmonia-Mitglieder von Velvet Underground, Mozart, Coltrane, Brel, arabischer und hinduistischer Musik und vielen mehr. Seit den 70er Jahren haben sie nicht zuletzt vielen internationalen Musikerkollegen kreative Vorlagen geliefert, wie zum Beispiel Brian Eno, der sie einmal die wichtigste Rockband der Welt nannte, David Bowie, The Edge, Aphex Twin und erst kürzlich Secret Machines, die eine Cover-Version von „(Deluxe) Immer Wieder“ in ihre Live-sets aufnahmen und veröffentlichten.
Das Trio hat in der kurzen Zeit seines Bestehens von 1973 bis 1976 zwei Alben veröffentlicht: 1974 das z.T. etwas spröde, aber überaus ergiebige Initialalbum „Musik von Harmonia“ und den zugänglicheren „Elektropop“-Nachfolger „Deluxe“. Über 20 Jahre später (1996) erschien „Tracks & Traces“, das Dokument einer Kollaboration aus 1976 mit einem der grössten Befürworter ihrer künstlerischen Arbeit, Brian Eno. In einer Zeit weltweit vermehrten Interesses an Krautrock und an Harmonia, erscheint mit „Harmonia live 1974“ eine bislang unveröffentlichte Aufnahme, die die drei Musiker in Bestform zeigt. Ihr Auftritt wurde mitgeschnitten am 23. März 1974 im Penny Station Club ( ein ehemaliger Bahnhof in der Nähe von Detmold ) ‚vor etwa 50 Leuten‘, wie sich Rother erinnert und in welchem er auch schon 1971, damals noch mit Kraftwerk, gespielt hatte.
„Harmonia live 1974“ ist zwar eine Live-Aufnahme, aber sie liefert nicht die rauhe, authentische Gig-Atmosphäre, die man vielleicht erwarten würde: Kein Jubeln, kein Applaus, nicht einmal Zwischenrufe. Einfach nur der Sound einer Band, die sich in einen Groove vertieft, mit dem Rücken zum Publikum, wie man auf dem Albumcover sehen kann, voll auf die live-Arbeit konzentriert im Bemühen, das Publikum zu fesseln und die Musik voran zu treiben. Rother vermutet, dass das Fehlen jeglichen Applauses und Publikumslärms nicht der Indifferenz der Zuschauer zuzuschreiben war, sondern dem Umstand, dass sie entweder bekifft waren oder wegen der langen Ausblenden – bis zur Unhörbarkeit – nicht zu erkennen vermochten, wann ein Stück aufhörte und ein neues anfing.
Erstaunlicherweise klingt die Harmonia-Musik immer noch so experimentiell, wie sie in dem ehemaligen Bahnhof vor 33 Jahre geklungen haben wird. Sie zeigt jungen Menschen heute, wie man sich in Musikstücke versenken kann, die länger dauern als ein Popsong. Zu hören sind das aufregende maschinelle Industrialtuckern von „Schaumburg“ (der Club WAR ja schliesslich ein ehemaliger Bahnhof!); das pulsierende Siebzehnminutenopus „Veteranissimo“; „Arabesque“, das mit seinen 5 Minuten 20 Sekunden beinahe als ein Popsong durchgehen könnte; der dunkle und dubartige Proto-Trip-Hop von „Holta Polta“ und die Ambientvorlage „Über Ottenstein“.
Voller Verwicklungen, Kreuzungen und versteckten Tiefen sind diese fünf Soundexperimente. Roedelius meint : Wissenschaft und Kunst sind in Wahrheit Geschwister in dem, wie sie der Realität begegnen, wie sie Dasein erkunden und versuchen, damit jeweils für ihre Disziplin geltende Schlüsse daraus zu ziehen.